Beim planlosen Herumstöbern ist der Graf zu Speis und Trank in einer Filiale des Schweizer Detailhändlers Denner auf etwas unerwartetes gestossen: Einen Gran Reserva mit dem Namen Raíces aus dem Spanischen Valdepeñas, Denominación de Origen, Jahrgang 2013 der Bodega Fernando Castro. Das Preisschild dazu? 3 Franken und 35 Rappen (rabattiert). Gran Reserva ist die höchste der spanischen Reifevarianten – wie kann es sein, dass ein Wein für nicht einmal dreieinhalb Franken diese Qualität erfüllen soll? Eine Flasche kommt gleich mit. Das muss näher investigiert werden.
Wer legt bei CHF 3.35 drauf?
Wein zu machen, bedeutet unglaublich viel Arbeit: Jahrelang Rebstöcke aufziehen und den Rebberg pflegen, Trauben ernten, maischen, pressen, filtern, ausbauen, abfüllen, etikettieren und vertreiben. Dafür sind teure Infrastrukturen, etablierte Prozesse, grosse Ländereien und viel Fachwissen nötig. Die Qualitätsstufe Gran Reserva besetzt anschliessend für fünf lange Jahre wertvollen Platz im Keller, bis der allererste Umsatz-Franken überhaupt an die Kellerei zurückfliesst. 3 Franken und 35 Rappen kann kein marktgerechter Endverkaufspreis sein, der allen Involvierten in der Vertriebskette einen Deckungsbeitrag lässt. Bei 3.35 legt irgendjemand drauf. Aber wer?
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5 Sterne vom grossen José Peñín
Wir entkorken bald die erste Flasche und geben dem Raíces einen Moment zum atmen. Es fallen schwere Regentropfen aus den tief hängenden Wolken und beenden eine überraschend lange Dürreperiode im frühen 2020. Der Graf ist überzeugt, die Verkostung wird den Schwindel aufdecken.
Dann folgt die Überraschung. Der Raíces, nachdem er einen Moment zum Atmen hatte, entpuppt sich als fantastischer Tropfen. Harmonisch und ausgewogen, weich und körperreich. Süss und fruchtig in der Nase, leckere Schwarze Beeren am Gaumen. Keine Spur von Qualitätsmängeln, die man einem 3-Franken-Fusel zumuten würde. Das aussergewöhnliche Preis-Leistungs-Verhältnis wurde im Guía Peñín mit 5 Sternen ausgezeichnet.
Im Guía Peñín, spaniens bedeutendstem Weinführer, werden Weine nach dem von Robert Parker lancierten 100-Punkte-System bewertet. Gleichzeitig vergibt der Guía Peñín dazu aber noch eine zusätzliche Bewertung von maximal fünf Sternen. Ein erstklassiger Wein mit über 95 Punkten kann demnach nur vier Sterne erhalten, wenn er sehr teuer ist. Im Umkehrschluss kann ein Wein mit bspw. nur 80 Punkten fünf Sterne erhalten, wenn er zu einem attraktiven Preis zu kaufen ist. Die Sterne-Bewertung nimmt also Rücksicht auf das Preis-Leistungs-Verhältnis.
Die Verkostung
- Traubensorte: Tempranillo
- Herkunft: Valdepeñas
- Jahrgang: 2013
- Alkoholgehalt: 13%
- Empfohlene Trinktemperatur: 16 bis 18 Grad
- Lagerfähigkeit: 6 bis 10 Jahre
Das Auge
Der Raíces weist ein leuchtendes Purpurrot mit feinen Violett-Reflexen aus.
Passt bei sommerlichem Wetter genau so…
Die Nase
Eine süsse, verführerische Note von Pflaumenkonfitüre und in Zuckerwasser eingelegten Pflaumen steigt in die Nase, wer sich einen Dufthauch vom Raíces gönnt. Begleitet von einem sanften Vanille-Aroma.
…wie bei regnerischen Verhältnissen
Der Gaumen
Der Wein ist weich, die Tannine halten sich sanft im Hintergrund. Er braucht nach dem Öffnen etwas Zeit, um sich zu beruhigen – er ist eingangs etwas störrisch, die Tannine bürstig. Ausgewogen und körperreich mit Aromen von schwarzen Beeren. Überraschend harmonisch und unglaublich drinkable. Der Graf hat den Raíces zu einem saftigen, auf Holzkohle goldbraun grillierten SpareRib weggeputzt und die Kombination mit dem Fleisch als einen Volltreffer empfunden.
Der Wein passt hervorragend zu Grilladen wie bspw. Spare-Ribs.
Marktanteile um jeden Preis
Zurück zur Gretchenfrage: Wer legt drauf?
Der Weinmarkt Schweiz ist ein hartes Pflaster. Seit Jahren ist der Konsum pro Kopf rückläufig. Gleichzeitig drängen die Grossverteiler wie Coop, die Migros-Tochter Denner oder Mövenpick immer tiefer in das Segment des Fachhandels. Qualitativ hochwertige (und eher etwas teurere) Weine waren früher dem Fachhandel vorbehalten, während im Detailhandel die günstigeren Weine mit etwas weniger Qualität verkauft wurden.
Dieses Gefüge ist jedoch seit mehreren Jahren am erodieren. Die Grossen spielen Ihre Power aus: Während 20%-Rabatt-Wochen auf das Weinsortiment bei Coop bis vor einiger Zeit nur vereinzelt vorkamen, gewährt der Detailhändler diesen üppigen Rabatt inzwischen mehrmals pro Jahr. Die Weinfachgeschäfte haben hier kaum eine Chance. Es bleibt ihnen lediglich die Möglichkeit, sich auf eine Nische zu spezialisieren.
Der Detailhändler Denner setzt mit dem unglaublich aggressiven (Aktions-)Preis von CHF 3.35 für einen qualitativ grossartigen Wein zum Frontalangriff auf die Konkurrenz an. Das Ziel ist es, Marktanteile zu erobern und die Fachhandels-Kundschaft aus den Weinhandlungen und den Coop- und Mövenpick-Filialen in die eigenen Läden zu holen.
Es ist anzunehmen, dass Denner den Wein direkt vom Produzenten bezieht. CHF 3.35 sind viel zu kleiner Preis, als dass da noch eine Marge für einen Importeuren drinläge. Die Bodega Fernando Castro, welche den Raíces Gran Reserva produziert, wie auch Denner selber werden aus diesem Preis nur einen verschwindend kleinen Verdienst herauswirtschaften können.
Wenn es denn so sein sollte, dass eine der beiden Parteien drauflegt, dann wohl leider die Bodega. Zu gross ist die Hebelwirkung, die die Abnehmer von grossen Mengen auf die Produzenten haben. Denn diese können selbstverständlich nicht einfach ganze Lastwagenladungen an Wein an die Konkurrenz verkaufen und etablierte Absatzbeziehungen den Bach hinunterspülen.
Fazit: Wein & Wirtschaft in einem
Die nähere Investigation des Falles Raíces hat sich über mehrere Wochen hingezogen. Für die Erarbeitung der sensorischen Merkmale und die Beantwortung der wirtschaftlichen Fragestellungen hat der Graf zu Speis und Trank verschiedene Gespräche und mehrere Verkostungsrunden durchgeführt. Es soll an dieser Stelle angemerkt sein, dass er selber einst im Weingrosshandel arbeitete und dazu auf ein bescheidenes Grundwissen zurückgreifen konnte.
Der Raíces Gran Reserva ist ein hervorragender Wein und ein mundiger Tropfen, welcher ein faireres Preisschild als nur CHF 3.35 verdient hätte.
- Erklärung zu den spanischen Reifevarianten auf Weinclub.ch
- Zum Raices Gran Reserva auf Denner.ch
- Spannender Artikel in der Handelszeitung zum Weinmarkt Schweiz